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Carl Reutlinger


Carl Reutlinger

Carl Reutlinger (der sich in Paris Charles nannte) nach 1850, Foto: wikimedia commons.
Carl Reutlinger (der sich in Paris Charles nannte) nach 1850, Foto: wikimedia commons.

Buchbindermeister, Wanderfotograf, Inhaber eines Fotostudios in Paris, * 25. Februar 1816 Karlsruhe, † 24. Juni 1888 Frankfurt a. M., jüd., ∞ 1845 Therese Kienle, gesch. Wahl, kinderlos.

Als Sohn eines jüdischen Weinhändlers ergriff Reutlinger zunächst in Karlsruhe das Handwerk des Buchbinders. Unter dem Einfluss einer Tante beschäftigte er sich aber auch mit der Technik des Scherenschnitts. Dazu wurden oftmals Ateliers mit optischen Gerätschaften ausgestattet, die jenen der späteren Fotoateliers ganz ähnlich waren. Nachdem 1839 die Erfindung der Fotografie durch Louis Daguerre vom französischen Staat der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt wurde, erreichten die ersten Wanderfotografen auch Karlsruhe und Reutlinger wurde auf das neue Medium aufmerksam. 1842 ging er daher nach Frankfurt am Main zu dem Silhouetteur und Kunstmaler Johann Gottlieb Bauer in die Lehre, der dort eines der ersten Fotoateliers gegründet hatte. Zuvor hatte Reutlinger in Karlsruhe das Bürgerrecht erworben und seinen noch im jüdischen Geburtsregister verzeichneten Vornamen Elkan in Carl geändert. Was ihn zu diesem Schritt bewogen hatte, kann nur vermutet werden. Da Juden damals teilweise in einer judenfeindlichen Umgebung lebten und es auch in Karlsruhe zu antisemitischen Ausschreitungen kam, wollte er vielleicht seine jüdische Herkunft verschleiern.

Als "Daguerreotypist aus Carlsruhe", wie es auf seinem Firmenstempel heißt, ging er bald auf Wanderschaft und bot seine Dienste unter anderem in Stuttgart, Tübingen, Augsburg und Ulm an. Dort haben sich einige Daguerreotypien von ihm erhalten, die auch in der jüngeren Literatur und im Netz publiziert wurden. Seine Heirat 1845 mit einer aus Bayern stammenden geschiedenen Frau ist im evangelischen Kirchenbuch von Karlsruhe verzeichnet, da er zwar noch jüdischer Konfession, sie aber Protestantin war und ihre Kinder christlich erzogen werden sollten. Seinen Wohnsitz hatte er damals noch im angemieteten Haus seiner Eltern in der Waldhornstraße 14, das dem Wagenfabrikanten Ulrich Kautt gehörte, dessen Sohn Louis er um 1860 für ein Album der Loge Leopold zur Treue, das sich heute im Stadtarchiv befindet, fotografieren sollte. Reutlingers Frau Therese ist von 1846 bis 1852 in der Herrenstraße 56 im Adressbuch verzeichnet. Vermutlich hatte sie Vermögen in die Ehe eingebracht, das auch für die Gründung des Fotoateliers in Paris genutzt werden konnte, das seit 1850 am Boulevard Saint-Martin und wenig später am Boulevard Montmartre bestand. Reutlinger hat nach eigener Aussage auch das nasse Kollodiumverfahren nach Paris gebracht, das Fotoabzüge auf Papier ermöglichte, während mit der Daguerreotypie bis dahin nur Unikate hergestellt werden konnten. Seine Frau bot Kurse in der neuen Technik an und ging damit auf Wanderschaft, wie dies durch eine Stuttgarter Zeitungsannonce von 1852 belegt ist.

In Paris blieb Reutlinger zunächst einem konventionellen Atelierstil treu und lichtete seine Kundschaft recht statisch sitzend vor einem gemalten Hintergrund ab. Zu ihr gehörten damals fast nur Mitglieder der höheren Gesellschaft wie die Schriftsteller Alexandre Dumas und Honoré de Balzac, Politiker des zweiten Kaiserreichs und Familienangehörige Napoleons III. Allmählich gesellten sich aber auch Mitglieder der Pariser Bohème dazu, so etwa Künstlerinnen und Künstler am Theater und die Tänzerinnen in den Varietés, zumal um 1870 Reutlingers Bruder Leopold aus Südamerika zurückgekehrt war und als Compagnon frischen Wind in die Geschäftstätigkeit des Ateliers brachte, indem er viele derartige Aufnahmen auch als Postkarten und auf Plakaten vermarktete. Carl Reutlinger zog sich 1880 als Pensionär nach Frankfurt am Main zurück, wo er zweiter Vorsitzender des dortigen fotografischen Vereins wurde. Nach seinem Tod veröffentlichte der Verein einen Nachruf auf ihn, der biographische Details zu seiner Lebensgeschichte enthält. Das Atelier in Paris wurde von seinem Bruder, dessen Sohn Léopold-Émile und dessen Enkel Jean noch bis 1937 erfolgreich weitergeführt. Er selbst und seine Frau waren kinderlos geblieben.

Der Nachlass des Ateliers mit circa 16.000 Einheiten (Fotos, Alben und Dokumente) befindet sich heute in der Pariser Nationalbibliothek und kann teilweise online eingesehen werden. Auch in anderen Sammlungen sind Reutlinger-Fotos noch reichlich vorhanden und werden zudem im Kunsthandel angeboten. Einen guten Überblick zur Fotografendynastie Reutlinger und ihrer Tätigkeit gewinnt man aus der reich bebilderten Publikation von Bourgeron, die allerdings einige fehlerhafte Angaben zur Familiengeschichte enthält, die von späteren Autoren übernommen wurden, aber hier anhand der Quellen korrigiert werden konnten.

Peter Pretsch 2024

Quellen

GLA Karlsruhe 390/1946 und 2008, Photographische Correspondenz, 25. Jg., Wien 1888, S. 355-357 (Nachruf mit Altersportrait); Bibliothèque nationale de France, Portal Gallica/Atelier Reutlinger, https://gallica.bnf.fr/conseils/content/atelier-reutlinger.

Literatur

Jean-Pierre Bourgeron: Les Reutlinger. Photographes à Paris 1850-1937, Paris 1979; Wolfgang Hesse: Ansichten aus Schwaben. Kunst, Land und Leute in Aufnahmen der ersten Tübinger Lichtbildner und des Fotografen Paul Sinner (1838-1925), Tübingen 1989; Joachim W. Siener: Die Photographie und Stuttgart 1839-1900. Von der maskierten Schlittenfahrt zum Hof-Photographen, Stuttgart 1989; Wolfgang Adler: Die Anfänge der Photographie in Ulm, in: Ulm im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1990, S. 519-567; Franz Häußler: Fotografie in Augsburg 1839-1900, Augsburg 2004; Peter Pretsch: Mit Karlsruher Wurzeln – Die Pariser Fotografendynastie Reutlinger, in: Blick in die Geschichte Nr. 131 vom 18. Juni 2021, https://stadtgeschichte.karlsruhe.de/stadtarchiv/publikationen-des-stadtarchivs/blick-131/reutlinger (Zugriff am 9. Juni 2024).